Gebogener Raum

Mit den Titeln „Gebogener Raum" reagiert Altin im Laufe des Jahres 1976 auf ein ganz anderes, gleichwohl für den Bildhauer ebenfalls grundlegendes Thema: zunächst die Bewegung im Raum, dann die Bewegung des Raumes und schließlich des Hineinnehmen des Raumes in das plastische Volumen.

Dabei weiß Altin sich Eduardo Chillida verbunden. Während dieser aber sich das Eisen dienstbar gemacht hat, bleibt Altin beim kristallinen Gestein. Er bleibt auch der gerundeten, am organischen Wachstum orientierten Gestalt treu. Eine sanfte Kraft richtet sie auf, erfüllt das sich reckende Rund mit weicher, gestraffter Schwellung. Viele dieser Formen bleiben in sich geschlossen.
Langgestreckte Ovale zuerst, später auch Dreiecke und Rechtecke gemahnen als geometrische Figuren an die Zeichnung, der sie sich verdanken, auch an ihre ursprüngliche Bindung an die Fläche, wo sie einen Teil davon ausgrenzt und als gesondert ausweist. Die in gerundeter Gestalt körperlich gewordene Linie umhüllt nun Raum und zwar im aktiven wie im passiven Sinne. Wie sie sich in den Raum hineinwölbt, zeigt das Licht, das ihre Oberfläche umspielt. Dabei wird der umhüllende Raum in seiner Eigenschaft als unendlich fließendes Kontinuum erfahrbar. Dieses Unendliche umschließend einzugrenzen, ist der aktive Teil der Arbeiten: Sie strecken sich nicht nur in die Höhe oder Breite, sondern greifen aus in die dritte Dimension, indem sie sich nur umbiegen oder in sich selbst drehen.
So entsteht ein enger Dialog zwischen den beiden Volumina Körper und Raum, wobei nicht nur die Skulptur sich in den Raum hinein ausdehnt, sondern auch der Raum in die Skulptur eingreift und sich als eigene Gestalt zu erkennen gibt. Die Aufgabe, auf die sich eine ganze Reihe von Skulpturen konzentriert, ist mit den Worten Chillidas so beschrieben: „Die Skulptur ist eine Funktion des Raumes. Ich spreche nicht von dem Raum, der außerhalb der Form ist, der das Volumen umgibt und indem die Formen leben, sondern ich spreche von dem Raum, den die Formen erschaffen, der in ihnen lebt und der um so wirksamer ist, je mehr er im Verborgenen wirkt. Ich könnte ihn mit dem Atem vergleichen, der die Formen anschwellen und sich wieder zusammenziehen läßt, der in ihr den Raum der Vision öffnet - unzugänglich und verborgen vor der Außenwelt.
Für mich handelt es sich dabei nicht um etwas Abstraktes, sondern um eine Wirklichkeit, die ebenso körperhaft ist wie die der Volumen, die ihn umschließen. Dieser Raum muß ebenso erfüllt werden können wie die Form, in der er sich manifestiert. Er hat expressive Eigenschaften. Er versetzt die Materie, die ihn umgreift, in Bewegung, bestimmt ihre Proportionen, skandiert und ordnet ihre Rhythmen. Er muß seine Entsprechungen, sein Echo in uns finden, er muß eine Art geistige Dimension besitzen"4. In der Gruppe der Arbeiten bis 1980 wird das Thema Raum und Körper sowohl in den oben genannten durchlässigen formen behandelt als auch in kompakten Bildungen bis hin zu Knoten. Die machen das gegenseitige Sichdurchdringen besonders sinnfällig. Am Ende der Reihe setzen Eiformen einen gewissen Schlußpunkt. Es handelt sich um Marmoreier in der natürlichen Größe von Hühnereiern. Haare sind einem solchen Ei auf der oben liegenden Seite in lockeren Abständen eingepflanzt. Die Haare sind nicht zu kurz, um Bewegungen im Raum nachzugeben, sich zu beugen und wieder aufzurichten. Die Haare machen den sogenannten leeren Raum ihrer Umgebung deutlich und sie reagieren auf das Geschehen darin mit ihrer Ausrichtung. Dem Außenraum steht im Bilde des Eies ein innerer gegenüber. Ein gefüllter Raum, wie jeder weiß und erwartet. Ein Raum, der die Dynamik keimenden Gedeihens in sich birgt. Was für ein Hühnerei zutrifft, begleitet zumindest in der Erinnerung das Marmorei. Sein Gewicht macht zunächst dichte Masse bewußt, und auch darin liegt eine Kraft, die im Falle des Eies leicht in Bewegung gesetzt, ihre Energie ins Spiel bringt.

- Dr. Ulrike Rein -

 
 

Datenschutzerklärung    Impressum